Dienstag, 31. August 2010

Leseprobe acht: "Zweieinhalb Wochen"


Für Jeans war es schon gestern zu heiß. Ich schlüpfe in meinen blauen Rock und wähle dazu ein knappes seidenes Top. Fertig angezogen sitze ich vor dem Zelt und schminke mich. Einige Meter entfernt geht ein Mann vorbei, ich sehe genauer hin. Er ist groß, schlank, hat längere Haare und sein Gang ... Hastig verschwinde ich im Zelt. Ist er es? Ich spähe aus dem Eingang. Nein, er ist es nicht, das wäre ja auch ein dummer Zufall. Warum erschrecke ich denn so? Ich sollte locker bleiben. Er ist bestimmt längst nicht mehr da. Und wenn, dann läuft er bestimmt nicht auf dem Zeltplatz herum.
Ein leises Lied auf den Lippen denke ich an etwas anderes und mache mir Frühstück. Ich lasse mir Zeit mit dem Essen und blättere währenddessen im Festivalprogramm. Erfreut stelle ich fest, dass heute Abend eine offene Session im großen Zelt stattfindet.

Wir gehen gegen Mittag. Auf den Wiesen im Park stehen mittlerweile einige Zelte, hier und da hört man die leisen Töne eines Instruments, Kinder spielen zwischen lagernden Menschen und Hunde laufen frei herum. Es sieht sehr friedlich aus.
In der Innenstadt ist es schon voll. Die Geschäfte haben geschlossen, doch große Cafés laden mit riesigen Sonnenschirmen zum Verweilen ein und die drei Gaststätten rüsten für den kommenden Ansturm.
Wir verbringen den Nachmittag damit, durch die Stadt zu schlendern, da und dort vor einer Bühne zu halten, um zuzuhören und dann zur nächsten Band weiterzugehen. Die Hitze macht mich schläfrig. Fast automatisch berühren meine Sandalen den heißen Asphalt, und ich lasse mich von der Stimmung, der Musik an jeder Ecke und dem leisen Gemurmel der Menschen treiben.
»Wenn wir die Session sehen wollen, müssten wir jetzt zurück«, erinnert P. mich.
»Ja, natürlich. Wie spät ist es denn?«
»Kurz vor drei.«
»Dann sollten wir uns beeilen.«

Auf der Bühne sitzen schon mehrere Musiker und spielen; wir lassen uns vorne nieder. Erst ist es recht leise, bis noch einige Musiker hinzukommen; ihre Instrumente entpuppen sich als Dudelsack, Akkordeon und mehrere Fiddles, ein Bodhránspieler fällt in den Rhythmus ein. Die Weisen werden lauter, und Gitarren sowie Bouzoukis runden das Klangbild ab.
Die Zuschauer drängen sich jetzt um die Bühne, und weil ich nichts mehr erkennen kann, gehe ich näher heran. Ich vernehme eine zweite Bodhrán, sie kommt mir bekannt vor; ist es ihr Sound oder die Art und Weise, wie sie gespielt wird? Tatsächlich, es ist R., und bei ihm sind U. und S. R. bedeutet mir heraufzukommen; ich verziehe fragend das Gesicht. Dann winkt auch S. mir auffordernd zu. Mal sehen, was die wollen. Ich gehe auf die Bühne. S. drückt mir ihre Mandoline in die Hand: »Ich muss zur Toilette.«
Ich setze mich auf S.s Stuhl und versuche mitzuspielen; und obwohl ich mich kaum noch mit dem Instrument auskenne, schaffe ich es nach und nach, in einige Tunes einzustimmen.
Schließlich ist mein Bier leer, P. bringt mir ein neues. Mit dem zweiten Bier geht alles einfacher. Das Spielen macht mir Spaß, meine Finger werden schneller. Ich vergesse, wo ich bin, und fühle mich in die Vergangenheit versetzt; weit weg in ein verräuchertes Pub irgendwo in Westirland.
Viel zu schnell vergeht die Zeit. Schließlich kommt einer der Organisatoren der Session und teilt uns mit, dass die Bühne in ein paar Minuten aufgrund des anstehenden Umbaus geräumt werden müsse. Allgemeines Bedauern geht um. Jemand sagt: »What about a song at the end?«
Dieser Vorschlag wird von den Zuhörern begeistert aufgenommen.
»Give us a song!«, skandieren sie rhythmisch klatschend.
Ich ahne, was auf mich zukommen könnte, will von der Bühne verschwinden. Ich bin schon an der Treppe angekommen, als R. meinen Namen ruft, noch dazu steht S. vor mir und versperrt mir den Weg nach unten.
»Nun sing ihnen doch noch ein Lied«, bittet S. mich.
Fast alle Blicke liegen auf mir. In was bin ich denn da schon wieder hineingeraten? Kann man mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Noch halb widerstrebend wende ich mich an einen meiner Mitmusiker, bitte um seine sehr gute Gitarre: »Kannst du mir die mal leihen?«
Er nickt.
Ich hole tief Luft. Ich werde Foggy Dew versuchen, auch wenn das nicht sehr traditionell ist. Danach wäre mir jetzt.
Um die Tonart im Kopf zu haben, schlage ich ein E‑Moll an. Es wird still im Zelt.
Leise, zögernd beginne ich den ersten Vers. Ich singe ihn ohne Begleitung und beginne in der zweiten Strophe mit der Gitarre. Meine Stimme wird lauter, der Rhythmus kräftiger. Schließlich fallen auch einige meiner Mitmusiker ein. Lauter Applaus erklingt, Rufe nach einem zweiten Lied mischen sich darunter.
»Gut, noch ein langsames zum Schluss«, sage ich, denn ich habe mit diesem Wunsch gerechnet: »Ich habe es das erste Mal in Irland gehört.« Begeisterte Zurufe unterbrechen mich. »Es ist sehr traurig, denn es handelt von den schlechten Zeiten während der großen Hungersnot. Vielleicht kennt es hier ja jemand.« Ich taste mich durch den Text und werde lauter. Hinter mir höre ich eine wunderbare zweite Stimme. Wieder fühle ich mich zurückversetzt nach Irland, zu gemütlichen Abenden im Pub neben dem Kaminfeuer, bei einem Glas Guinness und guter Musik.
Bis ich ihn sehe.
Ich will stoppen, sofort verschwinden, aber da das unmöglich ist, fahre ich fort. Ich wundere mich, dass mir die Worte immer noch von der Zunge rollen. Was macht er hier? Wieso interessiert er sich für Sessions? Zum Glück bemerkt keiner, was in mir vorgeht. Ist er es überhaupt oder habe ich mich vielleicht verguckt? Ich wage einen zweiten Blick.
Ein Mann steht in einiger Entfernung am Zeltpfosten. Eigentlich kann ich ihn kaum erkennen, denn es ist halb dunkel. Er schaut in meine Richtung und hört offensichtlich aufmerksam zu.
Es gelingt mir irgendwie, den Song zu beenden. Kaum dass der Applaus kommt, gebe ich die Gitarre zurück und will schnell gehen. Da sehe ich, dass der Mann seinen Platz verlassen hat und zur Bühne geht. Ich weiß nun genau, dass er es ist.
Panikartig dränge ich mich durch die Menge der aufbrechenden Musiker, schaffe es, rasch die Treppe herunterzukommen, höre R. hinter mir herrufen, verstehe nicht, was er will, und es ist mir egal. Nur weg! Ich registriere auch nicht mehr, dass S. mich verständnislos ansieht.
Ich wühle mich durch den Pulk der Zuschauer. Wohin? Zurück zum Zelt! Alles andere wäre nicht gut.
Ich blicke mich um. Niemand folgt mir. Mein Atem beruhigt sich. Ich kann P. ja gleich mit dem Handy anrufen, ihm sagen, dass mir plötzlich schlecht war. Erleichtert gehe ich zum Zeltplatz.

-  Ende Leseprobe acht - 

Einen schönen Tag wünscht Euch, 
Pearl

Zweieinhalb Wochen
Erotischer Roman, ISBN: 978-3-939970-01-9
© 2006 con dedizione, Verlag für Erotische Literatur, Köln
Vierte Auflage: September 2010

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